Neele und die Gezeiten

Wir haben Besuch vom Festland, Stefan mit Frau und Kind. Und wir haben deshalb gemacht, was sonst kein Norderneyer freiwillig tut: Wir haben zwei Strandkörbe gemietet. Hoffentlich erkennt mich hier keiner. Aber was tut man nicht alles für die Freunde vom Kontinent.

Und wie wir da so gemütlich im Sonnenschein sitzen, höre ich plötzlich ganz unfreiwillig folgenden Dialog aus dem Nachbarkorb:

Du Pappa?!

Was ist denn, Neele? Der Pappa sieht einwenig genervt von seiner Zeitung auf.

Ich glaub das einfach nicht! Neele, so irgendwas um 7 Jahre alt, sitzt vor ihrem Pappa im Schneidersitz und lässt gedankenverloren den Pudersand zwischen ihren Fingern rinnen. Mamma sagt, der Leuchtturmwärter zieht zweimal am Tag den Stöpsel raus, wie zu hause in unserer Badewanne. Und deswegen ist die Nordsee jetzt so weit weg.

Und??

Ich glaub das einfach nicht. Dann müsste er ja auch zweimal das Wasser wieder einlassen, oder Pappa?

Hm. Der Pappa nickt.

Sooon großen Wasserhahn gibt's doch gar nicht, oder??

Der Pappa nimmt sich an dieser Stelle vor, bei Gelegenheit mit der Mutter seines Sprosses ein paar ernsthafte Worte über pädagogisch wertvolle Erziehungsmethoden zu wechseln, aber Neele hat es offenbar geschafft, sein Interesse zu wecken, denn er faltet die Zeitung zusammen und legt sie zur Seite. Hat Mamma denn auch gesagt, warum der Leuchtturmwärter das jeden Tag tut?

Nee, hat sie nicht. Sie hat gesagt: Frag Pappi!

Aha, so ist das also. Und warum glaubst Du Mammas Version nicht?

Naja, einmal weil ich am Leuchtturm gar keinen sooo großen Wasserhahn gesehen habe.

Und warum noch?

Weil Mamma immer so komisch die Nase verzieht, wenn sie was sagt was sie selbst nicht so genau weiß.

Pappa ist erleichtert, dass die didaktischen Irrlichter seiner Angetrauten offenbar nicht allzu geeignet sind, das Kind wirkungsvoll zu verziehen. Und jetzt willst Du meine Version hören?

Hm! Neele nickt.

Na gut, dann schau mal. Pappa zaubert aus einem Rucksack eine Apfelsine hervor und einen ziemlich vertrockneten kleinen Apfel. Stell dir mal vor, Neele, die Apfelsine wäre die Erde. Und das, Pappa zerbricht eine Muschelschale und legt ein Fragment oben auf die Südfrucht, das wärst Du. Was passiert, wenn ich jetzt die Erde umdrehe?

Neele hat die Finger an die Nase gelegt wie einstmals Wickie und überlegt ernsthaft: Dann, dann, dann fall ich runter! Unbestechliche Logik, denke ich mir und bin schwer gespannt, wie Stefan aus dieser Situation wieder herauskommt.

Und? Fällst Du jeden Tag von der Erde wenn sich die Erde dreht?

Nee, Pappa, natürlich nicht! Neele grinst und lacht.

Das liegt daran, dass grooße Körper die Dinge anziehen. Die Erde ist sehr sehr groß und zieht daher alles an, was auf ihr drauf ist, so wie, äh, wie unser Staubsauger zu hause den Staub anzieht. Kannst Du Dir das vorstellen?

Neele nickt heftig und ist offenbar gespannt, wie die Geschichte weiter geht.

Also, die Erde zieht alles an, zum Beispiel den Sand, den Du gerade zwischen Deinen Fingern zerrinnen lässt. Oder auch Dich, damit Du nicht versehentlich runter fällst. Wenn nun fast die ganze Erde mit Wasser bedeckt ist, was passiert dann mit dem Wasser?

Ähm, dann tropft es runter!

Tja, und dann ist es weg. Und? Tropft das Wasser jeden Tag von der Erde?

Nee, natürlich nicht! Das Wasser ist ja jeden Tag wieder da, oder? Die Erde hält es ja fest, genauso wie mich. Und den Sand. Und Dich. Neeles Scharfsinn ist nicht zu unterschätzen.

Eben, und deswegen bleibt das Wasser rund um die Erde auf der Apfelsine. So eine nette kleine Schicht Wasser ist auf der Erde drauf, rund herum verteilt und überall ziemlich gleichmäßig. Und nun kommt der Mond. Pappa hält den vertrockneten Boskop neben die Apfelsine. Die Erde dreht sich, und zwar ungefähr einmal pro Tag unter dem Mond entlang, siehst Du? Der Mond ist zwar nicht so groß wie die Erde, aber er ist immer noch ein ziemlich dicker Brocken. Der zieht also auch an allem was er erreichen kann. Was meinst Du, was passiert mit dem Wasser auf der Erde, wenn der Mond daran zieht?

Äh, also, ich glaube, es fliegt zum Mond rüber, richtig?

Aber die Erde zieht doch auch an dem Wasser. Und viel mehr als der Mond, denn die Erde ist ja viel größer als der Mond. Wer von beiden gewinnt?

Die Erde, ist ja klar! Die Erde behält das ganze Wasser! Neele strahlt.

Pappa ist sichtlich stolz auf seine intelligente Tochter. Und vermutlich auch auf seine didaktischen Methoden. Stimmt, Neele. Deswegen fliegt das Wasser nicht zum Mond. Und Du auch nicht. Da bin ich aber erleichtert, dass Du hier bleibst, denn was mach ich wenn meine Neele zum Mond gezogen wird, hm? Also, zurück zum Mond. Da wo der Mond gerade ist, zieht er also am Wasser, und da Wasser ja flüssig ist, bildet sich son kleiner Wasserberg, direkt unter dem Mond, da ist dann Hochwasser. Pappa steckt das Muschelfragment in die Schale der Apfelsine. Guck mal, da wo Du gerade bist, ist also Flut, weil der Mond da am Wasser besonders zieht. Wenn sich die Erde nun weiter dreht (Pappa lässt die Apfelsine einwenig rotieren) bleibt der Hochwasserberg da wo der Mond zieht, aber da wo du gerade bist, ist wenig Wasser, siehste? Da ist dann Ebbe. Und wenn du am nächsten Tag wieder unter dem Mond stehst, dann ist da wieder Hochwasser, ganz einfach, oder?

Neele hats offenbar kapiert, sie grinst vergnügt. Offenbar gefällt ihr Pappas Erklärung besser als die Stöpselvariante.

Man könnte jetzt noch anmerken, dass Ebbe nicht Niedrigwasser, sondern ablaufend Wasser ist. Und dass der zweite Flutberg auf der mondabgewandten Erdseite durch die Fliehkraft entsteht und daher ein Ebbe-Flut-Zyklus, also eine sog. Tide, nur ein bisschen mehr als 12 Stunden beträgt (auch der Mond bewegt sich täglich ein bisschen weiter), aber wir wollen Neele ja nicht mehr verwirren als es ihre Mamma eh schon geschafft hat.

Alles klar, Neele? Prima. Der Pappa faltet seine Zeitung wieder auseinander, schüttelt ein paar Sandkörner aus den Blättern und versinkt in die Lektüre.

Kurze Stille. Dann:

Duhuu Pappa?

Ja, Neele?

Und warum dreht sich nun die Erde??

Pause.

Laaange Pause.

Und dann: Frag Mamma…